Israel National Trail

Der Wecker klingelt um drei Uhr morgens. Das wird sicher niemals meine Zeit werden, um aufzustehen. Aber heute! Heute, am 27. Oktober 2019, sollte die Erfüllung eines Traums beginnen. Es geht auf den Weg zum ersten Abschnitt des Israel National Trails. Mein Freund Thomas und ich haben uns vorgenommen, auf drei Abschnitte verteilt, über drei Jahre hinweg, 1100 km auf diesem Weitwanderweg durch das Heilige Land zu wandern. Schon seit Monaten haben wir uns mit diesem Vorhaben auseinandergesetzt. Bücher gewälzt, Artikel gelesen, Internetforen besucht, Etappen geplant, Unterkunfts- und Einkaufsmöglichkeiten recherchiert, Kontakte hergestellt und aufgefrischt. Da keiner von uns beiden jemals zuvor in Israel war, gab es vieles Neue herauszufinden. Auch körperlich mussten wir uns auf diesen Trip ausgiebig vorbereiten. Immerhin galt es auf unseren insgesamt 49 Tagesetappen von durchschnittlich ca. 20-25 km (es konnten auch mal 40 km werden), einen Rucksack von ca. 20 kg plus Trinkwasser durch das Land zu tragen.
Auf dem ersten Abschnitt wollten wir die Strecke im Norden des Landes zwischen Kibbutz Dan an der libanesischen Grenze und Shoham östlich von Tel Aviv zurücklegen. Wir hatten in den ersten Tagen traumhafte Ausblicke auf das Hula-Tal bevor es dann über den Berg Meron hinab, an Safed vorbei, zum See Genezareth ging. Wir waren fasziniert von einer atemberaubenden Landschaft, die wir so abwechslungsreich nicht erwartet hatten. Wälder, Weiden, Täler, Flüsse, Schluchten, Berge, Plantagen haben uns jeden Tag neu ins Staunen versetzt. Und da wir zu Fuß unterwegs waren, konnten wir die Eindrücke tief in uns aufnehmen und auf uns wirken lassen. In Ginosar hatten wir unseren ersten Ruhetag eingelegt, um uns Zeit zu nehmen für die zahlreichen Sehenswürdigkeiten am Nordwestufer des Sees Genezareth.
In der zweiten Woche ging es dann erst dem Westufer des Sees entlang und dann weiter nach Westen Richtung Mittelmeer. In dieser Zeit waren wir öfter gemeinsam mit einer Gruppe junger Israelis unterwegs. Viele junge Leute wandern diesen Israel National Trail nach ihrem Dienst im Militär. Und so kamen wir in lebhaften Austausch mit ihnen und konnten dabei von ihrer Ortskenntnis und den Beziehungen profitieren. Z.B. wurden wir am Rand der Schnellstraße spontan zu einem Fast-Food-Mittagessen eingeladen, der über den Onkel eines der jungen Leute organisiert wurde. Es ging über den Berg Karmel zum Künstlerdorf Ein Hod. Von dort aus war dann am zweiten Ruhetag ein Abstecher nach Haifa geplant. Die Stadtführung bekamen wir exklusiv von meiner früheren Nachbarin aus Kindheitstagen, die nun dort zuhause ist.
Die dritte Woche führte uns dann am Mittelmeer entlang nach Tel Aviv und von da bis zu unserem Ziel des ersten Abschnitts in Shoham. Meistens konnten wir bei Israelis übernachten, die für Wanderer Betten und oft auch Mahlzeiten bereitstellen. Immer wieder kamen wir ins Gespräch darüber, was uns als Deutsche motiviert, ausgerechnet ihr Land auf diesem Weg zu entdecken. Das gab uns natürlich viele Gelegenheiten, von unserer Verbundenheit mit dem jüdischen Volk und dem Heiligen Land zu erzählen. Die ausgeprägte Gastfreundschaft, die wir auf diesem Weg erfahren haben, hat uns tief berührt. Mit all diesen Eindrücken kehrten wir dann erfüllt und reich beschenkt nach Deutschland zurück.
Der nächste Abschnitt gerade mal gut drei Monate später im Frühjahr 2020 sollte einen völlig anderen Charakter bekommen. Es ging darum, von Eilat nach Ein Bokek die Wüste Negev zu durchqueren. Eine Wanderung vom Roten Meer zum Toten Meer. Die Route verläuft in aller Regel abseits der Zivilisation. So mussten wir noch von Zuhause aus organisieren, wo unsere Vorräte an Trinkwasser deponiert werden. Für jeden Tag rechneten wir einen Verbrauch von 6 Litern. Die Lebensmittelvorräte führten wir für diese 19 Tagesetappen im Rucksack mit uns. Im Wesentlichen waren das Trockenwürste, Pumpernickel, Pulvernahrung, Kekse, Nüsse und Riegel. Zum Übernachten steuerten wir dann ausgewiesene Nightcamps an, auf denen es erlaubt ist zu zelten und manchmal sogar Bio-Toiletten zur Verfügung stehen. Neben hervorragenden Wanderkarten konnten wir uns gut auf die GPS-Navigation unserer Smartphones verlassen. Zum Aufladen der Handys erwies sich ein Solarladegerät von großem Nutzen. Sonne hatten wir wirklich genug.
Auch hier begegneten uns immer wieder junge Israelis auf dem Trail. Einmal konnten wir mit einer ganzen Gruppe einen Shabbat feiern. Da wurde gegessen, gesungen und getanzt und wir waren ganz angetan über die Freude, Würde und Ernsthaftigkeit, die diesen Ruhetag prägt. Die Wüste selber hat uns komplett fasziniert. Diese Schönheit einer weitestgehend unberührten Landschaft ist unbeschreiblich. Berge, Felsformationen, Canyons, Oasen, trockene Wasserfälle, riesige Krater, Kies und Sand, aber auch die Akazienbäume und Ginstersträucher zogen uns in ihren Bann. Jahreszeitlich bedingt konnten wir auf manchen Etappen eine blühende Wüste bestaunen. Ganze Hänge waren in leuchtendes Violett getaucht. Kein Wunder, dass Wüsten nicht nur für Kargheit und Entbehrungen stehen. Sie sind auch Orte tiefer Glaubenserfahrungen, Gottesbegegnungen, Wunder, Einkehr, Besinnung und Gebet. Wir konnten das alles am eigenen Leib erfahren.
Wegen der Corona-Reisebeschränkungen mussten wir dann den noch fehlenden Mittelteil unserer Wanderung um ein Jahr verschieben. Aber im März 2022 war es dann endlich so weit. Nach einer ersten Nacht bei inzwischen gut bekannten Israelis in Shoham ging es nun wieder von Norden nach Süden bis zum Toten Meer. Ein Abstecher zur Jesus-Bruderschaft in Latrun, Besichtigungen in Jerusalem und der Besuch der Festung Masada zählen dabei sicherlich zu den Highlights. Aber wieder waren es die Begegnungen mit den einheimischen Menschen, die die Wanderung zu einer einmaligen Erfahrung werden ließen. Herzliche Einladungen zum Abendessen und zum Übernachten, viele Gespräche bis tief in die Nacht hinein, persönliche Geschichten und Schicksale haben diesen dritten Abschnitt ganz besonders geprägt.
So hat uns Gott auf diesem Trail nicht nur unser Herz für dieses wunderschöne Land, sondern auch für die Menschen darin weit geöffnet. Langsam. Schritt für Schritt. 1100 km lang. Diese Erfahrungen haben in unserem Leben tiefe, unauslöschliche Spuren hinterlassen und uns einen Reichtum erschlossen, den wir zuvor nicht einmal ansatzweise erahnen konnten. „Gelobt sei der HERR, der Gott Israels” (z.B. 1. Samuel 25,32).

Markus Gulden,
Pastor im Sozialwerk Bethesda, Neulingen
wohnt mit seiner Frau Andrea in Knittlingen