Die Lebensgeschichte von Sara Atzmon

"Menschen mit Stöcken, Steinen und Mistgabeln, die freiwillig morden, wie kann man nur so hassen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass keiner kommen würde um uns zu helfen und zu retten."

Sara Atzmon

Eigentlich wollten wir mit Sara Atzmon ein Interview machen. Sara Atzmon aber hat sich entschieden, unsere Fragen nicht zu beantworten, sondern ihre Lebensgeschichte nieder zu schreiben. Sie empfand es wohl als den richtigeren Weg und dies möchten wir respektieren. Dies hier ist die Lebensgeschichte von Sara Atzmon, lassen wir sie erzählen:

Ende 1941 haben sie meinem Vater den Bart abrasiert. Von dem Tag an konnte er uns nicht mehr in die Augen schauen, denn er schämte sich und hatte Angst.

Noch vor der deutschen Besetzung am 19. März 1944 waren wir schon unter Druck gesetzt, denn alle Männer, die älter als 15 waren, wurden in die Arbeitsabteilungen der deutsch-ungarischen Armee eingeteilt und die meisten kamen an die russische Front. Von dort kehrten nur wenige zurück.

Uns Kindern wurde nie etwas erklärt, ich hörte daher den Erwachsenen zu und versuchte zu verstehen.

Ungarn war mit Deutschland verbündet, wir mussten den Befehlen folgen. Wir mussten nachts die Fenster verdunkeln, damit die Bevölkerungszentren nicht sichtbar waren. Auch mussten wir alle unsere religiösen Wertgegenstände abgeben, Gebetsschale und Tefillin und alle Wertsachen, einschließlich meiner Ohrringe mit den Türkis-Steinen, Vaters guten Mantel, und Möbel - alles musste bei dem jüdischen Gemeindezentrum abgegeben werden und von dort wurde es an die Deutschen ausgehändigt.

Gemälde: Klagelieder - Wo bist du? (2)

Ende Mai wurden wir in Ghettos eingesperrt, die viel zu überfüllt waren (zu dem Zeitpunkt wurde die Stadt bombardiert und ca. 2000 Menschen starben). Am nächsten Tag mussten meine großen Schwestern mithelfen, die Toten und die Trümmer zu räumen. Natürlich beschuldigte man die Juden damit, dass das Ghetto verschont blieb.

Ich schaute immer auf die Scheinwerfer der Luftabwehr. Es kam mir ständig so vor, als wenn uns jemand ein Zeichen machte, dass sie kommen würden, um uns zu retten. Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, dass keiner kommen würde, um uns zu helfen und zu retten.

Ein Kind muss sich eine Hoffnung schaffen!!!

Eines Abends kam Vater nach Hause und sagte, dass wir nicht zusammen bleiben würden, und die Schwestern nähten für jeden eine kleine Tasche. Aber wir hatten nichts, was wir in der Tasche verstauen könnten, denn es war schon vier Jahre lang Krieg.

Aber Vater erstand Mehl, womit mein Bruder Eliezer Brot backte. Wir hatten im Ghetto im Keller einen Ofen. Eliezer versteckte Geld und Schmuckstücke im Brot, die sollten uns später helfen. Die Polizei erschien früh am nächsten Morgen. Binnen einer halben Stunde sollten wir das Haus verlassen. Mutter rief den Polizisten und ließ ihn zuschauen, wie sie Mehl und Gänsefett zusammen rührte und ließ ihn wissen, dass sie nichts anderes herein rührte. Später sollte das unser Essen werden. Wir Mädchen wurden einer gynäkologischen Untersuchung unterzogen, um sicher zu gehen, dass wir nichts versteckt hatten. Die Frau, die uns untersuchte, war nicht besonders behutsam, als Mädchen vergisst man so was ein Leben lang nicht. Am 15. Juni wurden alle Juden zur Ziegelei außerhalb der Stadt gebracht. In Debrecen lebten 13 Tausend Juden. Aus der Umgebung brachte man noch 30 Tausend. Es gab dort 3-4 Toiletten. Man befahl uns eine große Grube auszuheben. Ich war mir schon sicher, dass sie uns dort umbringen würden. Aber es war nur für die Latrine. Natürlich gab es auch kein Wasser.

Wir waren der erste Transport, der zu Fuß zum Bahnhof ging, ca. 20 km. Es fiel uns schwer zu gehen. Am 25. Juni stiegen wir in einen Waggon, der 3 x 6 m groß war. Er hatte zwei kleine Fenster mit Stacheldraht davor. Wir waren 96 und bekamen einen Eimer Wasser und einen leeren Eimer als Toilette. So mussten wir vor aller Augen auf die Toilette gehen.

Als der Zug anfuhr, kippte der Eimer um und alles floss aus. Die Entfernung von Ungarn nach Polen ist ein Tag mit der Bahn. Die Hitze war unerträglich, da der Zug meistens stand und nur nachts ein wenig fuhr. Die Säuglinge waren die Ersten, die starben. Und ihre Mütter haben geschrien. Und ich habe mit ihnen geweint, denn ich hatte Angst, dass auch ich sterben würde.

Gemälde: Debrecen-Auschwitz-Express 1993

Eine Woche später erreichten wir die polnische Grenze. Dort war eine Kontrolle und mein Vater fiel in Ohnmacht. Meine Mutter schrie einen deutschen Soldaten an, der uns mit Gewehr in der Hand bewachte, als der Zug stand. Sie fragte ihn, wie man Menschen unter diesen unmenschlichen Bedingungen einsperren könne. Der Soldat rief nach seinem Vorgesetzten und der verhandelte mit Mutter. Letztendlich gab Mutter ihm ein silbernes Zigarettenetui und er besorgte uns ein wenig Wasser und Brot.

Dann stellte sich heraus, dass wir nicht in der Liste für Auschwitz aufgeführt waren. Der Massenmörder Adolf Eichmann wurde gefragt, was man mit uns machen sollte.

Gemälde:   Geiseln 1991; 170 x 210 cm; Ölfarbe auf Sperrholz

Eichmann sagte, dass Auschwitz überfüllt wäre, es wäre kein Platz für uns (zu der Zeit kamen 5-6 Züge täglich, die Menschen wurden einer Selektion unterzogen und dann in die Gaskammern und Krematorien geschickt).

Eichmann entschied, dass wir nach Österreich ins Arbeitslager geschickt werden sollten. (So wurden wir das erste Mal gerettet). Nach 10 Tagen wurden die Waggons zum ersten Mal geöffnet. Wir konnten schon nicht mehr gehen. Wir waren im Selektionslager Strasshoff in Österreich angekommen.

Plötzlich befand ich mich unter Hunderten von nackten Frauen, einige von ihnen waren schwanger, und einige hatten Blut an den Beinen. Ich verstand das alles nicht, nie zuvor hatte ich nackte schwangere Frauen gesehen!!! Ich glaubte, sie wären alle schwanger.

Gemälde: Ausradiert von der Erde I; 165 x 105 cm; Öl auf Sperrholz

Die deutschen Soldaten mit ihren Uniformen und blankgeputzten Stiefeln gingen zwischen uns einher, es gab mir das Gefühl, dass sie auf unsere Köpfe traten. Nach drei Tagen wurden wir selektiert. Schwangere Frauen und Familien mit kleinen Kindern bekamen ein X auf die Hand gestempelt und wurden nach Auschwitz zurück geschickt. Wir erhielten einen Stempel mit GD und wurden nach Gmünd in Österreich geschickt. Dort in der Nähe liegt das Städtchen Heidenreichstein.

Gemälde: Unter dem polierten Stiefel; 1991; 100 x 70 cm; Tusche auf Karton

Hier wurden wir zu 27 auf einem Bauernhof im Pferdestall untergebracht. Man gab uns einen Laib Brot am Tag und Steckrüben-Suppe Ich arbeitete auf dem Feld und passte auf die Kühe auf. Ich sammelte Getreide und Kartoffeln. Dabei stibitzte ich die kleinen Kartoffeln. Eines Tages brachte der Lagerkommandant einen SS-Offizier und sagte ihm, dass Mutter nicht arbeiten wolle (zu der Zeit musste Mutter den Kuhstall ausmisten, die schwerste Arbeit in der Landwirtschaft). Zu Hause musste Mutter nie sauber machen, denn wir hatten Haushilfen. Mutter erklärte ihm, dass sie bereit wäre, jede Arbeit zu verrichten. Später sollte dieser SS-Offizier unser Freund werden. Wir nannten ihn Herr Leutnant.

Eines Tages rief man mich vom Feld und sagte mir, dass man Vater ins Krankenhaus bringen müsse. Es ging ihm sehr schlecht. Eliezer legte ihn in eine Schubkarre. Als ich ankam, sah ich ihn noch nach Luft ringen und in einem sehr schlechten Zustand. Er starb dort an Hunger und Demütigung.

Mutter rannte in die Stadt um einen Arzt zu holen. Der Arzt kam und konnte nur noch den Tod meines Vaters feststellen. Mutter kehrte zurück, aber sie konnte sich uns nicht nähern. Sie setze sich unter einen Baum und weinte. Ich weinte den ganzen Tag. (Später sollte ich jahrzehntelang nicht mehr weinen). Mutter sagte dem deutschen Offizier, dass nach dem jüdischen Brauch zehn Männer zum Kaddisch, dem Todesgebet , kommen müssen. Der deutsche Offizier holte von den Arbeitslagern zehn jüdische Männer. Das war nicht so schwierig, da ganz Deutschland und Österreich voll von Arbeitslagern mit jüdischen Männern und Kriegsgefangenen waren.

Der Bauer überließ uns die Karre ohne die Ochsen und wir schoben sie bis zum kleinen christlichem Friedhof. Aber es gab dort ein jüdisches Familiengrab von 1937. Am offenen Grab versprach uns Mutter, dass wir überleben würden. Und sobald wir ein neues Zuhause hätten, würden wir seinen Leichnam von hier wegholen, denn es schickt sich nicht für Israel Gottdiener Hacohen auf einem nicht-jüdischen Friedhof begraben zu sein. (20 Jahre später sollten wir seinen Leichnam nach Israel holen, aber unsere liebe Mutter hat das nicht mehr miterlebt).

Zweimal die Woche erschien eine Bäuerin mit einem Ochsengespann, um für ihre Kühe Gras zu schneiden. Wenn sie an uns vorbei kam, befahl sie ihren Ochsen: "Langsam!" und hinterlegte für uns eine Scheibe Brot. Wir nannten sie Frau Langsam. Später kamen wir in ein anderes Arbeitslager. Am Ende des Sommers kamen wir wieder ins Selektionslager Strasshof. Es war kalt und drei Tage lang verbrachten wir nackt. Zum Schluss bekam ich nicht meine Kleidung wieder, sondern irgend welche Lumpen, und einen roten Kinderschuh und einen Damenschuh mit hohem Absatz. In diesen Schuhen marschierte ich ins Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Gemälde:     Mein Vater                                                                                       Priestersegen. 1992; 80 x 140 cm. Öl auf Leinwand.

Unsere Nachbarn waren die holländischen Juden. Sie kamen schon zwei Jahre vor uns an und fielen um wie die Fliegen. Im Lager herrschte Ordnung: Einmal die Woche bekamen wir ein Stück Brot aus Sägemehl, das war soviel wie eine Scheibe Brot pro Tag und dazu gab es Suppe aus Kartoffelschale, Steckrüben und wenn ein Stück Fleisch dazwischen war, waren wir sehr glücklich. Aber vor einigen Jahren sah ich in einem Film, wie der Küchenchef dem Krematorium-Chef für eine Lieferung von Leichen für die Küche unterschrieb. So wurden wir zu Kannibalen.

Gemälde: Meine glorreichen Heldenbrüder170 x 210 cm; Ölfarbe auf Teerpapier

In Bergen-Belsen wohnten 500 Menschen in einer Baracke. Ich schlief zusammen mit meiner Schwester Mati und ihrem zweieinhalb Jahre alten Sohn Yoel (der Mann meiner Schwester wurde in Buchenwald ermordet).

Wir schliefen in dem untersten Bett einer dreistöckigen Pritsche. Ein halbes Jahr lang konnten wir uns nicht waschen, wir waren vollkommen verlaust. Die Waschräume waren sehr weit entfernt. Als Mutter mich dort waschen wollte, stellte sich heraus, dass in den Hähnen kein Wasser war. Ihre Notdurft verrichteten die Menschen in einer Dose. Manche von ihnen aßen auch aus derselben Dose.

Tagtäglich standen wir 2-5 Stunden in den Appellen. Meine Zehen waren von der grausamen Kälte gänzlich erfroren. Ich war mir sicher, dass sie mir absterben würden. Immerzu ist man von einem Bein auf das andere getreten, ansonsten wären die Beine eingefroren. Um nicht meinen Verstand zu verlieren, versuchte ich mir vorzustellen, dass ich nicht dort zugegen bin, sondern nur zuschaue.

Gemälde: Der Appell 1989; 160 x 170cm ; Gemischte Technik

Anschließend habe ich mit meiner Schwester Schoschana gewettet, wer morgen sterben würde - und wer übermorgen. Wir sollten immer Recht behalten, denn immerzu starben Menschen. Schoschana feierte am 5. Februar ihren 13. Geburtstag, und ich schenkte ihr ein Stück von meinem Sägemehlbrot. (Das war das größte Geschenk, das ich jemals in meinem Leben vergeben habe).

Gemälde: Gelungene Ernte 70/100, 1991 Chinesische Tusche auf Bristol

Die Ratten versuchten ständig, unser Brot zu stehlen. Letztendlich erkrankte auch ich an Durchfall. Mutter tauschte meine Brotration gegen Medikamente ein, ich hätte sonst nicht überlebt. Dort erkrankte ich auch an einer chronischen Entzündung meiner Wirbelsäule, eine schwere Krankheit, die mich bis heute begleitet. Jedenfalls hätte ich ohne meine Familie nicht überlebt.

An Tagen, an denen der Appell nicht so lange dauerte und es auch nicht zu kalt war, stand ich und starrte auf die Berge von Leichen mit ihren geöffneten Mündern. Ich versuchte, zu erkennen wer eine Frau und wer ein Mann war. Immer versuchte ich mir vorzustellen, was diese Menschen noch rufen wollten oder vielleicht beteten sie darum, noch einen Tag zu leben? In meiner Phantasie kleidete ich diese Menschen in schöner Kleidung, die passte aber nicht zu den leidenden Gesichtern.

Die Leichen wurden auf riesige Karren geladen. Die Krematorien waren überlastet. Daher legte man die Leichen auf eine Reihe von Baumstämmen und verbrannte sie. Obwohl wir Gestank gewohnt waren, würgte der dichte Qualm des brennenden Fleisches unsere Kehlen.

Eines Abends teilte man uns mit, dass wir nicht dort bleiben würden, und wir verharrten die ganze Nacht draußen!!! Dann spritzte man uns Typhus-Erreger. Am 6. April marschierten wir wieder zu den Waggons.

Amerikanische Flugzeuge flogen über drei Züge. Sie bombardierten einen von ihnen, denn sie wussten nicht, was im Zug war. Ca. 3000 Häftlinge befreiten sich aus den beschädigten Waggons und liefen davon. Die "guten Nachbarn" sahen, wie Menschen davon liefen und jagten hinter ihnen her und ermordeten freiwillig 2500 von ihnen. Die restlichen 500 flohen zurück ins Lager. Auf dem Friedhof von Celle ist eine Bronzetafel angebracht, die diese Geschichte erzählt. Das Ausmaß des Hasses ist schwer zu verstehen. Menschen mit Stöcken, Steinen und Mistgabeln, die freiwillig morden, wie kann man nur so hassen?

Auf dem Weg zu den Waggons konnten einige von uns schon nicht mehr gehen. Meine Schwester Miriam trug meinen Bruder Mosche auf dem Rücken. Und wiedermal waren wir in Waggons!!!

Insgesamt verbrachten wir 23 Tage in den Waggons, ein Mal bei Höllenhitze und ein anderes Mal in Hundekälte. Zu unserem Glück fanden wir diesmal Steckrüben in der Nähe des Zuges, auf diese Weise konnten wir jeden Tag eine Scheibe Rübe essen, aber die Menschen waren schon am verhungern. Wir waren 2500 Menschen im Zug.

In sechs Tagen fuhren wir 100 km hin und zurück. Dann hielt der Zug in der Nähe von Farsleben. Die deutschen Soldaten wollten jetzt unsere Zivilkleidung haben und wir sollten sagen, dass sie uns gut behandelt hätten. Dann machten sie sich aus dem Staub. Aber sie kamen zurück und entschieden sich, uns umzubringen. Ich überlegte mir, wie ich mich retten konnte. Ich versuchte zum See hinunterzugehen, als ob ich Wasser holen wollte. Am Abend gab es eine Kanonenschlacht zwischen den Deutschen und den Amerikanern. Alles bebte. Ich hatte wieder Angst, und letztendlich schlief ich ein in einer Ecke des Waggons.

Am nächsten Morgen stiegen meine Schwestern Miriam und Edna den Abhang hinauf, um nach Essen zu suchen. (Der Zug stand unten im Tal, wenn sie nicht hinaufgestiegen wären, wären die amerikanischen Panzer an uns vorbeigefahren, ohne uns zu bemerken).

Sie sahen eine Gruppe der Hitlerjugend (15-16), die die weißen Fahnen zerbrachen, die von den Bauern ausgehängt waren. Sie versteckten sich vor ihnen, denn sie hätten sie umbringen können.

Dann kamen zwei amerikanische Panzer und ein Jeep mit ca. 16 Soldaten. Meine Schwestern erkannten, dass es keine Deutschen waren und sprachen sie an und führten sie zum Zug. Die Soldaten waren schockiert, denn wir sahen schon nicht mehr wie Menschen aus. Auch stanken wir fürchterlich, denn schon mehr als sechs Monate hatten wir uns weder gewaschen noch unsere Kleidung gewechselt.

Installation: "Befreiung"

Die Soldaten befahlen dem Bürgermeister von Farsleben, uns etwas zu essen zu geben, und der sagte natürlich, dass er nichts habe. Nachdem die Soldaten ihn mit einer Pistole bedrohten, bereitete man uns eine Suppe mit Schweinefett zu. Wir waren schon nicht mehr imstande zu essen. Alle wurden krank, einige mehr und einige weniger. Meine Schwester Schosch erkrankte an Typhus. Die amerikanischen Soldaten bauten sofort ein Lazarett auf und gaben uns Medikamente. Auf diese Weise retteten sie noch mehr Menschen von einem sicheren Tod.

Die britischen Soldaten begruben nach der Befreiung von Bergen-Belsen über drei Wochen lang ca. 50 Tausend Leichen mit Bulldozern. Anschließend brannten sie das ganze Lager nieder, denn es stellte eine Gefahr für die Umwelt dar, mit sehr vielen Ratten und Typhus-Erregern. Daher existieren dort heute anstelle von einem Lager nur noch Massengräber von verschiedenen Größen: 20 Tausend, 10 Tausend, 5 Tausend, einzelne Tausende, und nach der Befreiung starben noch 14 Tausend. Vor wenigen Jahren, als ich an einer der jährlichen Gedenkfeiern teilnahm, brachte ich Erde aus Israel mit und streute sie dort über die Gräber, denn es war mir wichtig, dass Erde aus dem Heiligen Land ihre Gebeine bedecken sollte.

Gemälde: Des Teufels Abendmahl 1990; 190 x190 cm; Mischtechnik

Die amerikanischen Soldaten gaben uns die Wahl, entweder nach Amerika, Ungarn oder Palästina zu reisen. Die Familie entschied sich für Palästina, und das war gut so. Ansonsten wären wir zwischen den Heimatlosen-Lagern herumgeirrt. Auf diese Weise kamen wir nach nur drei Monaten nach unserer Befreiung nach Palästina. Dort kamen wir natürlich in ein Übergangslager in Atlit, denn man musste sich vergewissern, dass wir gesund waren.

Zehn Tage später wurden wir in ein Heim für Neueinwanderer geschickt. Dort verbrachte ich die nächsten vier Jahre mit Kindern aus Rumänien und Polen, die auch ihre Familien verloren hatten. Es war eine religiöses Heim und ich lernte dort Hebräisch und das Beten. Sobald ich alleine lesen konnte, betete ich jeden Morgen gegen Osten gewandt. Ich wollte Gott danken, dass er mich gerettet hatte. Ich war überzeugt, dass Gott nur mich hörte. So haben wir morgens gearbeitet und nachmittags lernten wir Hebräisch, Mathematik und Englisch.

Bis 1947 lebten Araber und Juden in Koexistenz. 1947 wurde der UN-Beschluss verabschiedet, wonach auf einem kleinen Teil von Palästina ein jüdischer Staat entstehen sollte. Die Juden waren glücklich, dass sie endlich ihren eigenen Staat bekommen sollten. Die Araber lehnten den Beschluss ab und sieben arabische Staaten griffen den gerade erst geborenen jüdischen Staat an. Wir alle wurden aufgerufen, bei der Gründung des Staates mit zu helfen. Ich reinigte Waffen, die man aus der Tschechei besorgt hatte und ich war sehr stolz darauf. Der Unabhängigkeitskrieg dauerte fast zwei Jahre und alle waren zum Schluss glücklich, dass wir unseren eigenen kleinen Staat hatten.

Die Freude, die wir alle fühlten, ist nur schwer zu beschreiben, wir sangen und tanzten. Es ist unmöglich, das Gefühl des großen Glücks, das uns alle überkam, in Worte zu fassen. Es wurden viele Gedichte darüber geschrieben. Aber der Staat erlitt im Unabhängigkeitskrieg auch einen Verlust von 6000 Menschen, das waren ein Prozent der ganzen jüdischen Bevölkerung.

Gleich nach der Unabhängigkeitserklärung wurden wir von sieben arabischen Staaten angegriffen. Nicht weit von wo wir getanzt hatten, hörten wir Schüsse. Es wurde auf einen Bus geschossen und eine Frau wurde getötet. Überall gab es tödliche Anschläge auf Juden.

Zu unserem Glück sollte es allen arabischen Staaten zusammen nicht gelingen, die Entstehung des Staates zu verhindern. Und unsere Nachbarn, die der hauptsächliche Grund dieses Krieges waren, entflohen in Scharen. (Sie fürchteten, dass wir ihnen das antun würden, was sie mit uns geplant hatten, und z.B. alles umzubringen, was sich nur regt). Auf diese Weise flüchteten ca. eine Million Menschen. Der Krieg ging 1949 zu Ende. Bis 1967 lebten wir voneinander getrennt, aber nicht in einem Kriegszustand. Die arabischen Armeen stoppten alle Palästinenser, außer Ägypten und die Jordanier im Westjordanland.

Zwischen 1948 und 1967 gab es Siedlungen weder im Westjordanland noch im Gazastreifen und keine jüdische Armee. Dies waren die Grundbedingungen der Palästinenser für die Gründung eines palästinensischen Staats, aber aus irgendeinem Grund kam es nicht zur Gründung des Staats. Anscheinend sind sie dem noch nicht gewachsen. Zur selben Zeit flüchteten ca. eine Million Juden aus arabischen Ländern, die selbe Menge von Menschen, die von hier geflüchtet war. Das bedeutet, dass der Austausch von Flüchtlingen schon stattgefunden hat.

Bis 1949 lebte ich in einem Heim für neue Einwanderer. Dann sagte man uns, dass für meinen weiteren Aufenthalt kein Etat vorhanden wäre. Es blieb mir keine andere Wahl, als bei meiner Mutter einzuziehen, die mit einigen von meinen Geschwistern in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit Toilette auf dem Hof wohnte. Mutter kaufte ein Zelt. Ich war 16 Jahre alt und hatte keine Berufsausbildung. Tagsüber arbeitete ich und abends ging ich auf eine Oberschule, um meine Schulbildung fortzusetzen. Dort lernte ich meinen Mann Uri kennen. Später leistete ich meinen Wehrdienst, absolvierte einen Kurs für Sportlehrer und einen Offizierskurs. Ein Jahr nach meinem Wehrdienst heirateten wir, wir hatten eine kleine Landwirtschaft, mit der man keine Familie ernähren konnte. Ich beschäftigte mich an verschiedenen Arbeitsstellen und hoffte, so den Erinnerungen an die schrecklichen Erlebnisse zu entrinnen. Heute haben wir sechs Kinder, 22 Enkelkinder und 8+ Urenkel.

Und dann in 1987 beschloss ich Ungarn zu besuchen. An der Grenze fragte man mich, warum ich Ungarn verlassen hätte!!!! Das kam für mich wie ein Schock!!! Ich antwortete ihnen: Ihr habt mich an den Schlächter ausgeliefert!!!

Anschließend fuhren wir nach Debrecen, wo ich aufgewachsen bin. Dort fragte ich die älteren Anwohner: Wo sind die 13 Tausend Juden, die hier gelebt haben? Sie antworteten mir, dass sie es nicht wüssten, obwohl sie in unseren Häusern wohnten, unsere Möbel benutzten und zugesehen hatten, wie die Juden in Kolonnen abgeführt wurden, in Viehwaggons abtransportiert wurden, und keiner kam um uns zu helfen, wie ist das möglich?

Es wurde mir bewusst, dass ich etwas für das Gedenken tun musste, etwas, das ein Licht auf diese dunkle Zeit werfen würde. Ich begann daher, meine Erinnerungen zu malen, mit dem Gedanken, dass mein Publikum junge Menschen ohne künstlerische Bildung sein würden. Ich entschied mich für das Malen anstelle vom Schreiben, sodass keine Übersetzung notwendig sein würde. Meine ersten Bilder waren eher symbolisch. Mein erstes Bild war von roten Schuhen und trug den Namen "Die, die in der Asche gehen".

Das Publikum verstand nicht so recht, was ich damit ausdrücken wollte.

Gemälde: "Die in der Asche gehen."

Im nächsten Bild malte ich die mehrstöckigen Pritschen, auf denen wir schliefen, und nannte es "Etagen zum Tod". Da begannen die Menschen zu verstehen.

Gemälde: Todesetagen; 1988; 100 x 70 cm; Öl auf Karton

Das dritte Bild hieß "Klagelieder" und zeigte den Gebetsschal meines Vaters, denn es tat mir sehr weh zu sehen, wie er achtlos auf den Boden geworfen wurde.

Gemälde:

 

"Klagelieder" – Wo bist DU? (1)

1992, während des Golf-Krieges, konnte ich nicht aufhören, zu malen. Die Bilder sprudelten tags und nachts nur so aus mir heraus. Farbige Bilder und große Bilder. Jedes mal dachte ich, wenn ich noch größer male, wird es durch die Decke gehen.

Auch begann ich Exponate zu bauen und diese mit Musik zu kombinieren. Immerzu suchte ich einen Weg, das Erlebte zu veranschaulichen, denn es ist unmöglich das wahre Gräuel jemals zu beschreiben.

Gemälde: Ein versiegelter Raum im Zentrum der Welt; 4x 70 x 100 cm; Öl auf Karton    Installation

Es mussten über 40 Jahre vergehen

Es mussten über 40 Jahre vergehen, bis ich genug Kräfte gesammelt hatte, um die Bilder von der Hölle aus meiner Erinnerung herauszulösen. Es bedurfte der Unterstützung meiner Familie und meiner Umgebung, um diese Erinnerungen wieder ins Bewusstsein zu holen. Auch für mich ist es schwer, mir vorzustellen, dass ich diese furchtbaren Dinge tatsächlich erlebt habe und bis heute ist es schwer, zu verstehen, was für Menschen imstande waren, uns dies anzutun? Waren wir wirklich solche schlechten Menschen? Was haben wir den Völkern Europas angetan?

Wir, die Geschwister die noch leben, treffen uns jedes Jahr am Befreiungstag, dem 13.4.1945 und tauschen Erinnerungen aus. Unsere Ehepartner haben schon die meisten unserer Geschichten gehört und die Kinder wachsen schon mit der Realität auf, eine Großmutter zu haben, die den Holocaust überlebt hat.

Gleich zu Anfang bat man mich, meine Bilder auszustellen und Schülern meine Geschichte zu erzählen. Man sieht den Schock in ihren Gesichtern. Auch mich erfasst dieses Gefühl des Schocks, denn die Bilder werden uns immer klarer.

Vielleicht haben einige der Schüler schon etwas davon gehört? Aber in Deutschland erzählt man mir, dass die Großmütter nichts erzählen!!!

Heutzutage bitte ich im Voraus, dass die Kinder meine Webseite besuchen: www.SARAATZMON.ORG. Ich bitte auch im Voraus, dass die Schüler noch vor dem Vortrag Fragen vorbereiten, ansonsten fragen sie nicht, weil sie noch zu schockiert sind.

Der Feigenbaum-Verein hat die Herausforderung angenommen und übernahm die Produktion eines 43 Minuten Films. Er heisst "Holocaust Light gibt es nicht" und sollte den Schülern vor meinem Vortrag gezeigt werden. Der Film stellt den Kontakt zwischen mir und den Schülern her.

Die Schüler fragen mich, ob es nochmal passieren kann? In unserer heutigen Zeit, mit der schnellen Kommunikation, ist es schwer zu verstehen, wie man so etwas geschehen lassen konnte, denn die Medien würden es sofort berichten. Aber trotzdem passiert es auch noch heute: In Tschetschenien, Afghanistan, Syrien wurden schon fast eine Million Menschen ermordet, und die Welt schaut zu!!!

Die Frage ist: Was kann man tun??? Ich bin der Meinung, dass da, wo Ungerecht geschieht, sofort gehandelt werden muss, ansonsten ist es wie bei einem Feuer: Ein kleines Feuer kann mit einem Eimer Wasser gelöscht werden. Später nur noch von der Feuerwehr, aber wenn die sich verspätet, dann ist das ganze Haus abgebrannt.

Die Ausstellung meiner Bilder ging um die ganze Welt, insgesamt über 250 Ausstellungen, z.B. Burma, Nepal, Hong Kong, Indien, Ungarn, Tschechien, Spanien, USA, Ukraine, Schweden, Deutschland und Österreich. Die Ausstellungen werden von meinen Vorträgen begleitet und jedes Mal treffe ich mit 1500 - 2000 Schülern zusammen.

Ich bin stolz darauf, dass einige meiner Werke im Yad Vashem Museum und im Außenministerium ausgestellt werden. Das Außenministerium nominierte mich auch für den Zusman-Preis. Später wurde ich auch mit dem Verdienstkreuz des Landes Brandenburg und von Bundespräsident Gauck mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Wir danken Sara Atzmon, dass Sie bereit war, uns ihre Geschichte zu erzählen.
Die Lebensgeschichte ist unterlegt mit Gemälden von Sara Atzmon.

Arbeitskreis Israel

Februar 2018 /RK