Da ist in Einheit vieles möglich, was für ein Werk zu groß ist (Apg. 21, 11) Hinrich Kaasmann

Herr Kaasmann, der Arbeitskreis Israel lässt auf seiner Homepage Menschen zu Wort kommen, die hinter Israel stehen, die etwas für Israel tun. Sie stehen für eine Organisation, die großen Anteil an der Rückführung von Juden nach Israel hat. Wir danken Ihnen, dass Sie sich trotz Ihrer vielen und intensiven Arbeit, Zeit für uns und unsere Fragen nehmen. 

Lieber Herr Kaasmann, Sie arbeiteten als Ingenieur, dann kam die Entscheidung vollzeitlich in den Dienst bei Ebenezer einzusteigen. Wie kommt man dazu, sein bisheriges Leben total über Bord zu werfen und letztendlich ins kalte Wasser zu springen?

Ingenieur war mein Wunschberuf, und Bibellesen für mich immer damit verbunden, dass ich mich mit den beschriebenen Personen identifiziert habe. Und nach Gemeinsamkeiten geschaut habe. Bei meinem Beruf als weltweit tätiger Ingenieur war es nahe liegend, dass Nehemia für mich ein Vorbild wurde. Er baute die Mauer Jerusalems in 52 Tagen auf und hatte vorbildliche Management- und Projektleitereigenschaften. Nehemia identifizierte sich mit seinem Volk – was für mich als Deutscher bei unserer Vergangenheit lange ein Problem war - und er stürzte sich nicht sofort in den „vollzeitlichen Dienst“ oder kündigte beim König, sondern er bekam Urlaub (Neh. 2, 5 - 7). So habe ich gebetet, dass sich Geistliches und Beruf verbinden lassen – und unser Vorstand gab mir fünf Monate frei – das war 1993. Viel später in Kap. 13, 6 gibt Nehemia dann endgültig den Dienst beim König auf und geht nach Jerusalem. Bei mir dauerte diese Zwischenphase, in der Beruf und geistlicher Dienst parallel liefen, 12 Jahre bis 2005, da war ich 55 Jahre.

Wie kamen Sie zu dem „Thema“ Israel?

Politisch und geschichtlich waren die Juden und Israel lange belastend Teil meiner deutschen Identität – wie ein dunkler Schatten. 1987 besuchten meine Frau und ich Israel, betend und Bibeltouristisch. Erst 1991 während des 1. Golfkrieges öffneten sich mir die Augen bei einer Bibelwoche in Bad Gandersheim mit Johannes Facius (+). Ein Jahr später auf einer Fürbitter-Konferenz in Jerusalem erlebten wir Gustav Scheller (+). Er kam direkt aus Haifa zusammen mit Juden, denen durch seine Initiative die Ausreise per Schiff aus der Ukraine nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gelungen war. Nach den ersten drei Schiffreisen von Odessa war er entsprechend „high“, überzeugend und mitreißend.

Dass Ebenezer sich für Juden weltweit einsetzt, die Alijah (also Einwanderung nach Israel) machen wollen, wissen diejenigen, die sich für die Arbeit von Ebenezer interessieren. Was aber bedeutet die Bezeichnung Ebenezer?

Eben-Ezer ist der „Stein der Hilfe“, den Samuel aufrichtet - 1. Sam. 7, 14 - als die verloren gegangene Bundeslade von den Philistern zurückkommt.

Was sind die Hauptaufgaben von Ebenezer-Deutschland?

„Begegnung – Versöhnung – Rückkehr nach Israel“ so beschreiben wir unsere Berufung und Kernaufgaben. Zunächst einmal bedeutet das, auf den jüdischen Menschen zugehen, Juden Hilfe zu bringen, sie zu trösten (Jes. 40, 1), sich vor ihnen zu verbeugen (Jes. 60, 14) und dann praktisch zu helfen, wenn sie nach Israel möchten. Wir nennen das „Fischen“ nach Jes. 16, 16

Ebenezer-Deutschland engagiert sich hauptsächlich in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion und in Äthiopien. Fangen wir mal mit Äthiopien an. Die Rückführung der äthiopischen Juden ist so gut wie abgeschlossen. Wer sind diese äthiopischen Juden?

Die Rückkehr der äthiopischen Juden ist gerade in eine neue Phase getreten. Im Dez. 2015 hat die israelische Regierung entschieden, weitere 8.000 Falascha Mura einreisen zu lassen. Über die äthiopischen Juden gibt es viele Legenden. Biblisch ist Äthiopien Kusch, Saba gehörte auch dazu. Mose war mit einer Kuschiterin verheiratet. Später gab Salomon der Königin von Saba „alles, was ihr gefiel“ (2. Chr. 9, 12) So ist es kein Wunder, dass sich die Kaiser Äthiopiens (zuletzt Haile Selassie) als Nachkommen Salomos verstanden. Der Kämmerer in Apg. 8, 27 ff war äthiopischer Jude. Er las Jes. 53 und nahm Jesus an, und wurde so der erste messianische Jude von Äthiopien.

Über viele Jahre erfolgte eine Rückholung der äthiopischen Juden durch den Staat Israel. Unvergesslich die großen Aktionen, am Schabbat, als bei Flugzeugen die Sitze ausgebaut wurden, um mehr Platz zu schaffen für die Heimkehrer. Dies kam in die Öffentlichkeit. Über die Arbeit von christlichen Werken schweigen die Medien. Wie viele äthiopische Juden hat Ebenezer in den vergangenen Jahren nach Israel gebracht?

Seit 2005 wurden ca. 8.000 äthiopische Juden nach Israel ausgeflogen, in den nächsten vier Jahren wird es noch einmal die gleiche Zahl sein. All das wird von der israelischen Jewish Agency und Keren Hayesod organisiert. Wir beten intensiv für die Alijah und helfen in bescheidenem Rahmen, z.B. arbeiten wir in Gondar mit einer Ärztin der Universitätsklinik zusammen, helfen bei der Schulspeisung und der medizinischen Nothilfe. In Israel unterstützen wir Neueinwanderer in Notfällen, besonders Waisenkinder. Dabei hilft uns der ehemalige verantwortliche Konsul, der in Ihrer Frage erwähnten Operation Salomon (1991). Er hatte in Köln Abitur gemacht und ohne seinen Rat hätten wir kaum sinnvoll arbeiten können. Wir sind ein kleines Rädchen im komplizierten Netzwerk der Ausreise und Integration.

In den letzten Monaten gab es Demonstrationen in Israel gegen die Behandlung der äthiopischen Juden. Sind die Übergriffe auf diese Menschen Einzelfälle oder leiden alle unter Rassismus?

Es sind Einzelfälle, aber es gibt große Herausforderungen, denen die israelische Verwaltung nicht immer gewachsen ist.

Wie kann eine Integration gelingen, wenn Menschen von einem „Dritte-Welt-Land“ plötzlich in einem „Erste-Welt-Land“ ankommen? Wie hat Israel dies bewältigt und wie die Äthiopier?

Schlüssel der israelischen Integration sind sofortiger 6-monatiger Sprachkurs und sofort eine Arbeitserlaubnis. Natürlich sind es zunächst Bewachungs- und Reinigungsarbeiten etc. Die Unterbringung erfolgt ein Jahr in Integrationszentren, häufig geleitet von Äthiopiern. Die Kinder werden betreut von Wehrpflichtigen – oft jungen 18/19-jährigen Frauen – die nicht in Kampfeinheiten der Armee sind und ein bis zwei Tage oder wochenweise dafür abgestellt werden. In Israel läuft Integration wesentlich über Schule und Armeedienst. So sind Vergleiche zu unserer aktuellen Situation nur begrenzt möglich.

Ihr zweites großes Einsatzgebiet ist im Moment die Ukraine, seit etwa drei Jahren in einer extrem schwierigen Lage. Wie hat sich das politische Geschehen auf die Juden der Ukraine ausgewirkt?

Die Auswanderung aus der Ukraine hat sich während dieser Zeit mehr als verdoppelt. Die Zahl der Binnenflüchtlinge aus den Separatistengebieten liegt bei 1 – 1,5 Mio, davon geschätzt 1% Juden, also 15.000. Nicht alle wollen nach Israel, auch wenn sie visumfrei als Touristen einreisen können und bei Freunden und Verwandten unterkommen. Problematisch ist, dass sie nach 90 Tagen zurück müssen, wenn sie nicht nachgewiesen haben, dass sie gemäß Einwanderungsgesetz wirklich Juden sind. Dieser Nachweis ist oft schwierig, weil Dokumente in Archiven im unerreichbaren Separatistengebiet liegen. Bleiben sie „einfach“ in Israel, sind sie „Illegale“ und dann wird es sehr schwierig.

Wie gefährdet sind die ukrainischen Juden?

In der Ukraine gibt es einen latenten Antisemitismus, das war schon immer so. Damit wissen die Juden seit Jahrhunderten umzugehen. Neu sind die Kriegswirren und der wirtschaftliche Niedergang. So sind es weniger religiöse oder zionistische Gründe, die zur Entscheidung führen auszureisen. Das Leben in Israel ist wirtschaftlich und gesellschaftlich attraktiv und wesentlich weniger risikoreich als in der heutigen Ukraine.

Wenn man sie fragt, wollt ihr hier bleiben oder nach Israel (oder auch in ein anderes Land) wie stellen sich die ukrainischen Juden zu ihrer Situation?

Seit 1989 sind zwei Drittel aller Juden der Ex-UdSSR ausgereist. 2 % der heutigen jüdischen Bevölkerung reisen pro Jahr aus, das der höchste Prozentsatz weltweit. (zum Vergleich: aus Frankreich sind im Jahr 2015 1% der ca. 700.000 Juden ausgereist, aus Deutschland nur 0,07% ) Zurück bleiben die Optimisten. „Es wird auch wieder besser!“ (das erinnert uns an 1933-1938) und die, die ihre Lage aktiv verändern möchten. Eine große Zahl, gerade der Älteren würde gern nach Deutschland kommen. „Da ist das Wetter besser für uns, nicht so heiß!“ und Hartz IV ist natürlich besser als Sozialhilfe in Israel.

Israel hatte angedacht, die ukrainischen Juden zu evakuieren. Man hört nichts mehr davon. Wäre eine solche Evakuierung überhaupt möglich und hätten christliche Hilfswerke die Logistik dafür bereits vorbereitet, die Israel mit nutzen könnte?

Es gibt keinen erkennbaren Grund, in der jetzigen Lage zu evakuieren. Täglich fliegen ca. 6 - 8 Flugzeuge nach Israel, von verschiedenen ukrainischen Flughäfen. Das sind ca. 1.000 Sitzplätze täglich! Technisch ist eine Evakuierung in kurzer Zeit machbar, es ist eine Frage der Finanzen. Zum Glück gibt es eine Christliche Allianz Alijah aus der Ukraine; hier arbeiten 5 Alijahwerke operativ zusammen. Da ist in Einheit vieles möglich, was für ein Werk zu groß ist. Apg. 21, 11.

Die Juden in der ehemaligen Sowjetunion hatten es schwer, auch schwer das Land zu verlassen. Zwar waren sie bei der Regierung verhasst, aber ziehen lassen wollte man sie auch nicht. Dann, als die Ausreise möglich wurde, verließen viele das Land. Aber das erste Ziel war nicht Israel. Viele sind nach Amerika oder nach Deutschland. Warum?

Ca. 2 Mio. Juden sind aus der ehemaligen UdSSR sind ausgewandert: Für 1, 1 Mio war Israel das erste Ziel. 230.000 kamen nach Deutschland, 300.000 in die USA, Kanada und der Rest in andere Länder. Vereinfacht gesagt: Israel war offen, alle anderen Länder hatten Quoten oder Kontingente. (Stichwort in D: „Kontingentflüchtlinge“, Helmut Kohl Vereinbarung vom Januar 1991)

Wie viele Juden leben heute noch in der Ukraine oder überhaupt im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion?

Die Zahlen „offiziell“ oder „geschätzt“ unterscheiden sich um 100%, je nachdem, ob man über Halachische Juden (Mutter ist Jüdin) oder Sowjetische Zählung (Vater oder Mutter sind Juden, Zeile 5 im UdSSR-Pass) redet. Darüber hinaus gibt es wegen der stalinistischen Verfolgung nach dem 2. Weltkrieg viele Juden, deren Eltern oder Großeltern Papiere vernichtet haben. Meine persönliche grobe Schätzung ist 1,5 Mio, davon 3 - 500.000 in der Ukraine.

Sie kommen als Deutscher zu den Juden in der Ukraine, eine ausgesprochen problematische Beziehung. Wie schaffen Sie Vertrauen?

Historisch ist unsere Beziehung natürlich belastet. ABER: Die russischen und ukrainischen Menschen unterscheiden zwischen Nazis und Deutschen. Bei uns in Deutschland wird weniger differenziert, wenn wir über die „Russen“ in Ostpreußen 1945 sprechen. Generell werden Deutsche bewundert und auch geliebt. Wir haben gerade als Deutsche völlig offene Türen, wenn wir die Vergangenheit ansprechen. Ein Schlüssel ist dabei der Prophet Jesaja, 60, 14, der über die Söhne der Unterdrücker redet. Sie sollen kommen, hingehen und sich verbeugen – dazu braucht man nicht einmal einen Übersetzer! Wenn wir das bewusst als Botschafter an Christi Statt tun, wird der Heilige Geist fließen und ER tröstet. Wenn wir das alles erklären, wird es sehr schwierig, aber ein Botschafter ist Botschafter und sollte sein Mandat annehmen und nicht dauernd erklären.

Ebenezer-Deutschland ist eines von verschiedenen Hilfswerken, das sich für die Rückführung von Juden nach Israel einsetzt. Die Internationale Christliche Botschaft Jerusalem fördert die Rückführung von indischen Juden und hält enge Verbindung zu israelischen Behörden. Wie sieht Ihre Zusammenarbeit mit israelischen verantwortlichen Stellen aus? Erhalten Sie auch Unterstützung von Israel? Zum Beispiel in der Begleitung der angekommenen Juden oder Unterstützung, wenn es mit den ukrainischen Behörden Schwierigkeiten gibt? Können Sie die israelische Botschaft vor Ort einschalten?

Ohne enge Zusammenarbeit mit israelischen Behörden, besonders der Jewish Agency for Israel, JAFI, ist unser Dienst nicht möglich. Wir pflegen diese Beziehungen und haben gerade im letzten Jahr erlebt, wie wir als Werke der Christlichen Allianz für die Alijah aus der Ukraine gemeinsam von der Knesset und von der Leitung der Jewish Agency öffentlich ausgezeichnet wurden. Es gibt regelmäßige Arbeitsbesprechungen mit der israelischen Botschaft und dem ukrainischen Konsulat. Das ist völlig normal. Wir arbeiten in einem Maße zusammen, wie es vor 20 Jahren als Utopie erschienen wäre. „Evangelikale“ Christen werden als Freunde Israels quer durch die israelische Politik anerkannt. Manche Themen sind natürlich öffentlich tabu, aber das wissen wir und sehen, dass dann andere Christen und Werke diese wichtigen Aufgabenfelder abdecken. Jeder sollte genau seine Aufgabe und Berufung kennen und anerkennen. Gefährlich wird es, wenn wir uns gegenseitig das Etikett „richtig“ oder „falsch“ aufdrücken. Es gibt zu Israel sehr unterschiedliche Bibelstellen und jeder rechtfertigt seine Meinung selektiv biblisch. Hier haben wir schmerzhaft Lehrgeld bezahlt, aber ich denke, wir haben gelernt.

Sie halten Vorträge in Deutschland über Ihre Arbeit in Israel. Sie machen auf die derzeitige Situation von ukrainischen Juden aufmerksam. Wie sind die Rückmeldungen auf Ihre Vorträge, auf Ihre Arbeit? Erleben Sie auch Anfeindungen? Und wenn ja, von welchen Gruppierungen?

Persönlich erlebe ich keine Anfeindungen. Das mag an meiner Erfahrung im internationalen Management liegen; aber ich höre das auch wenig von Mitarbeitern oder Anderen. Wenn überhaupt, kommt scharfe Kritik aus freikirchlichen Kreisen (Stichwort „Evangelisation“). In Gemeinden spreche ich über „Israel – was geht mich das an?“ und generell erhalte ich erstaunte Rückmeldung: „So habe ich das noch nie gesehen!“

Herr Kaasmann, ich glaube nicht, dass man Sie fragen muss, wie lange machen Sie diese Arbeit noch, es ist eine Lebensaufgabe geworden. Wir wünschen Ihnen viel Kraft und Gottes Segen für Ihre Aufgabe.

Danke, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben.

Für den Arbeitskreis Israel: RK Mail 2016

Wer sich für die Arbeit von Ebenezer interessiert, findet weitergehende Informationen auf der Homepage: www.ebenezer-deutschland.de