Bei der historischen Recherche kann man zumindest als Christ und politisch aktiver Bürger nicht stehen bleiben. Vielmehr stellt die historische Forschung den ersten Schritt einer „Theologie der Versöhnung“ dar. Erst wenn die Fakten nicht mehr verschwiegen werden, sondern auf dem Tisch sind, können die nachfolgenden Generationen, die durch Gewalterfahrungen getrennt sind ein gemeinsames Narrativ entwickeln und sich begegnen.                                             
 Gabriel Stängle

Lieber Herr Stängle, wir vom Arbeitskreis Israel haben unter der Rubrik  „Nachgefragt“  eine Untergruppe mit  „Nachgefragt - Leute“. Hier sollen Menschen zu Wort kommen, die in Israel oder  den Palästinensergebieten leben oder die sich auf irgendeine Art für Israel und die Menschen dort engagieren.

Sie sind Lehrer, Sie haben mit Schülern ein Projekt erarbeitet, bei dem es um die Geschichte der Juden im Kreis Calw, Baden-Württemberg während der Zeit des Nationssozialismus ging. Grund genug für uns neugierig zu sein.

Wir danken Ihnen, dass Sie bereit waren, uns an dieser so wertvollen Arbeit teilhaben zu lassen und sich Zeit für uns nehmen.  

Herr Stängle, Sie sind Lehrer,  Geschichtslehrer an einer Nagolder Realschule. Würden Sie uns ein bisschen etwas über sich erzählen?
Ich wohne mit meiner Frau und drei Kindern im Oberen Nagoldtal und unterrichte seit 2003 an der Christiane-Herzog-Realschule in Nagold. Ich unterrichte Fächer Englisch, Geschichte und ev. Religion, die ich studiert habe aber auch das Fach Erd-, Wirtschafts- und Gemeinschaftskunde. Seit vierzehn Jahren führe ich mit Klassen, aber auch Schülergruppen oder einzelnen Schülern historische Projekte durch, die die regionale Geschichte erforschen.
 

Sie haben im Geschichtsunterricht mit mehreren Schülern ein Projekt erarbeitet, in dem es um die Judenverfolgung im Landkreis Calw im „Dritten Reich“ ging. Sie wurden damit beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2014 / 2015 „Landessieger Baden-Württemberg“. Wie entstand diese Projektidee?
Im Jahr 2009 habe ich mit ehemaligen Schülern Pfarrhäuser im Nagoldtal und Oberen Gäu (der Region zwischen Calw, Herrenberg und Nagold) untersucht, die in den letzten Kriegsmonaten Juden versteckten. Dabei haben wir die Handlungsmotive, ihre Glaubensvorstellungen und ihre soziale Stellung untersucht. Dann war da auch die Frage: Wer waren die Juden in der Region, über die man andeutungsweise schon etwas gehört hat.
Dann habe ich vor vier Jahren eine AG-Stunde bei meiner Schulleitung beantragt, und meiner Klasse die Projektidee vorgestellt, die verfolgten Minderheiten im Nationalsozialismus  in unserer Region zu erforschen.
 

Das Projekt ging über einen Zeitraum von zwei Jahren.  Wie bringt man es fertig, Schüler über einen  solch langen Zeitraum für ein Thema zu motivieren? Vor allem für ein solches Thema?
Die Projekte entwickeln eine gewisse Eigendynamik. Auf der einen Seite gibt es Schüler, die keinen Zugang zu dieser Arbeitsweise finden und andere wiederum, die „voll abgehen“. Interessanterweise spielen dabei die üblichen Noten, die ein Schüler hat, kaum eine Rolle. Nachdem wir die Arbeiten bei den Wettbewerben eingereicht hatten war erst einmal ein halbes Jahr Ruhe. Das brauchte die Klasse auch, weil man nicht ein Projekt im Dauermodus machen kann. Der Bildungsplan 2004 schrieb vor, dass jede Klasse ein so genanntes TOP in dem Bereich „Wirtschaften, Verwalten, Recht“ machen muss. Wir machten daraus eine Ausstellung im Nagolder Rathaus, die auf eine große Zustimmung stieß. Und dann fragten uns die Leute: „Ja und wo kann man jetzt das Buch kaufen?“ Das Buch – das gab es noch nicht, da setzte ich mich vor allem hin und recherchierte weiter und bearbeitete die Arbeit der Jungs, dass wir es als Buch verlegen konnten.
 

Frage an die Schüler, Jeremias Viehweg und Fabian Gote: Der Holocaust, die Judenvernichtung ist ein beklemmendes Thema, warum haben Sie sich für dieses Projekt entschieden, es gab ja auch noch weitere zur Auswahl?
Jeremias Viehweg: Es war ein spannendes Thema und wir empfanden einen indirekten Bezug zur Thematik, da man darüber immer mal wieder was gehört hatte. Doch ganz so genau kannte man sich eben nicht aus. Das sollte sich ändern.

Fabian Gote: In unserer AG-Stunde bildeten sich sechs Schwerpunktgruppen: Juden im Kreis Calw was ich und meine Freunde bearbeiteten, dann Juden in dem sogenannten „Judendorf“ Baisingen, Zwangsarbeiter im Nationalsozialismus, Opfer der NS-Euthanasie, politisch Verfolgte sowie Menschen, die sozialen, rassischen Gründen oder ihrer sexueller Orientierung verfolgt wurden.
Im Prozess der Themenfindung erzählte ich den anderen Jungs in der Gruppe von der Verfolgung meiner Urgroßmutter zwischen 1933-1945. Sie kam im Jahr 1900 in Kaiserlautern zu Welt und war aus Sicht der Nationalsozialistin eine „Volljüdin“. Einige ihrer Familienangehörigen starben in der Shoa. Dieser familiäre Hintergrund war der Auslöser, uns mit der lokalen Ausgrenzung und Verfolgung von Juden im Kreis Calw zu beschäftigen.
 

Frage an die Schüler: Wenn man dieses Thema rangeht und aus der gleichen Gegend stammt, hat man nicht die Angst, dass da auch die eigene Familiengeschichte plötzlich aktuell werden könnte? Dass man vielleicht in der eigenen Familie Täter oder Opfer des Nationalsozialismus hat? Wie geht man als junger Mensch damit um?
Jeremias Viehweg:  Ganz ehrlich, wir hatten damit kein Problem. Wir konnten aber auch nicht ahnen, dass wir so akribisch und detailliert die Sache aufwühlten. Es war interessant bei den Forschungen auf Namen zu stoßen, zu denen wir einen Bezug hatten.
 

Fabian Gote: Angst kam bei uns nicht auf, dass wir festgestellt hätten, dass einer unser Vorfahren Mitglied der NSDAP oder bei der SS war. Auf der einen Seite denke ich, dass das alles schon so lange her ist, auf der anderen Seite macht es mich betroffen, dass meine eigene Uroma ein Opfer dieser Zeit war. Ich denke dabei darüber nach, wie schlimm es für mich wäre, wenn so etwas noch einmal passieren würde und, wie  ich mit diesen schwierigen Lebensumständen und Gefahren umgehen würde.
 

Als Sie das Projekt begannen, Herr Stängle, hatten Sie da nicht die Befürchtung einigen auf „die Füße“ zu treten? 
Als ich Junglehrer war und mich dem Thema Nationalsozialismus in Nagold zuwandte, meinte ein älterer Kollege: „Überlegt dir gut, ob du als Vater mit einer jungen Familie das Thema angehst und hier in Ruhe weiter leben willst.“ In der Tat fehlte in heimatgeschichtlichen Darstellungen zu dem Zeitpunkt noch jede kritische Auseinandersetzung mit der Thematik.
In der Zwischenzeit hat sich einiges geändert. Die betroffenen Zeitzeugen sind kaum mehr da, der gesellschaftliche Erinnerungsdiskurs hat sich weiterentwickelt. Ängstlich bin ich nicht. Schließlich gilt auch für historisch belastende Erfahrungen die Aussage Jesu „Die Wahrheit wird euch frei machen“
 

Sie mussten viel recherchieren, in Archiven, bei Behörden, in Kirchenregistern. Wie war die Bereitschaft der Verantwortlichen, Sie bei der Recherche zu unterstützen?
Auf Seiten der Archive war eine große Unterstützung festzustellen. Ab und an gibt es noch gesperrte Akten. Dann muss man abschätzen, ob man es dabei belässt, oder einen Antrag auf Entsperrung stellte.
 

Sie haben nach Zeitzeugen gesucht, wie oft haben Sie dabei gehört, lasst doch die alten Zeiten ruhen?
Das habe ich, wenn ich mich recht entsinne gar nicht gehört. Ich glaube das hängt damit zusammen, dass die Täter-Generation weitgehend nicht mehr unter uns ist. Momentan arbeite ich an der Erforschung des NS-Krankenmords im Kreis Calw. Ich könnte mir vorstellen, dass es hier nicht ganz so einfach ist, wenn wir mit der Thematik an betroffene Familien herantreten, weil es stark in die Familiengeschichte eingreift.
 

Sie haben aus der Projektarbeit ein Buch gemacht „Wir waren froh, als es vorbei war“. Man erhält es nicht in der Buchhandlung, sondern nur über die Schule. Warum? Würde man mit einer Vermarktung im öffentlichen Buchhandel nicht mehr erreichen?
Im lokalen Buchmarkt ist es erhältlich und der Verlag Geiger Druck leitet Anfragen direkt an mich weiter. Ich habe im letzten halben Jahr mehrere hundert Exemplare mit der Post verschickt. Auf Anfrage: staengle(at)chr-nagold.de
 

Sie halten Vorträge, gehen in Gemeinden, wie ist die Resonanz auf Sie, auf das Buch, auf das Thema? Wie offen sind die „Calwer-Landkreis-Bürger“ für ihre Geschichte?
Ich sehe eine sehr große Offenheit auf Seiten der christlichen Kirchen und Gemeinden. Wenn ich bei Buchvorstellungen die Hausherren frage, woher die Menschen kommen, kennen sie mehr als die Hälfte der Besucher nicht. Es gibt also ein  großes Interesse auch jenseits des bekannten örtlichen Radius. Mein Eindruck ist, dass in den Orten wo die Menschen die Verfolgung überlebt haben, die Situation offener ist. In den Orten wo die meisten Juden die Shoa nicht überlebten, gab es trotz mancher Versuche noch keine Buchvorstellung. Im Schwarzwald sagen wir häufig, dass man bei dicken Brettern mit Geduld die Löcher bohren muss. Das will ich auch weiterhin so tun.
 

Die Juden im 3. Reich. Antisemitismus, der nie ganz aus unserer Gesellschaft verschwunden ist. Man geht davon aus, dass rund 25 % der Deutschen eine latente antisemitische Grundhaltung  hat. Warum hält sich Ihrer Meinung dieser Judenhass so in den Köpfen?
Die Juden sind als „Volk des Bundes“ sehr häufig in der Geschichte ein Stein des Anstoßes gewesen sind und es noch immer. Lange Zeit schien für mich der theologische Antijudaismus überwunden zu sein. Wenn ich auf den neuerliche theologische Diskussion schaue, dass für Christen nur das Neue Testament normativ sein soll, oder dass die Ehe, der Bund zwischen Mann und Frau in den meisten evangelischen Landeskirchen auch „für alle“ gelten soll, komme ich zu anderen Ergebnissen. Der NS-Theologe Walter Grundmann hätte mit seinem Programm zu „Beseitigung jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“  heute seine große Freude.
 

Noch krasser ist es wenn man die Frage zu Ende denkt, wer unsere jüdischen Geschwister sind. Der einzige Fall, in dem im Nationalsozialismus der sogenannte Arierparagraph in der württembergischen Landeskirche angewandt wurde, war im Fall des Neuweiler Pfarrers Reinhold Schmelzle, dessen Frau Martha vor Ihrer Hochzeit als Jüdin zum ev. Glauben konvertierte. Die Familie musste Neuweiler verlassen und überlebte das „Dritte Reich“ weil Schmelzle eine Pfarrstelle bei der Ev. Gesellschaft in St. Gallen in der Schweiz fand. Vor drei Jahren wurden auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart keine messianischen Juden in Veranstaltungen zugelassen. Einer Martha Schmälze wäre beim DEKT 2015 ein Auftritt auf einem Podium verweigert worden.
 

Sie sind Lehrer, Sie haben muslimische Schüler an Ihrer Schule. Wie ist Ihre Erfahrung mit diesen im Umgang mit Antisemitismus? Wenn man sich die Antisemitismus-Studie „Global 100“ ansieht und hier die muslimischen Länder, haben wir Prozentsätze in der Spitze bis zu 93 %, die antisemitisch eingestellt sind. Wie geht man in Deutschland mit jungen Menschen um, die diese Haltung sozusagen schon mit der Muttermilch aufgesogen haben?
Unsere Gesellschaft ist für den linken wie muslimischen Antisemitismus annähernd blind. Wenn ich die BDS-Kampagne, die zum Boykott, Deinvestition und zur Sanktion in Israel aufruft sehe, dann erinnert mich das sehr an „Deutscher – kaufe nicht beim Juden“. Was ich von muslimischen Schülern vor wenigen Wochen in punkto antisemitische Vorurteile gehört habe, lassen bei mir alle Alarmglocken schrillen. Ich ging im Unterricht auf alle seit dem Mittelalter verbreiteten antisemitischen Stereotypen und Legenden ein, als ein muslimisches Mädchen sich meldete und meinte, dass ihr das alles bekannt vorkomme „wie die Juden seien“: Als Beweise brachte sie türkische Fernsehserien und mehrere türkischsprachige Filme auf YouTube vor.
 

Sie haben ein Projekt gemacht, das viel fordert. Eine letzte Frage, würden Sie es wieder beginnen mit all den Erfahrungen, die Sie damit gemacht haben?
Ich habe gar nicht aufgehört. Für mich sind die Erfahrungen mit Schülern sehr, sehr positiv, was die Entwicklung des Klassenklimas angeht. Aber wenn bei Schülern die Erkenntnis gekommen ist, dass nicht das „die Geschichte“ ist, was im Schulbuch steht, sondern was sie gerade aus Quellen zu Tage fördern und wenn sie das noch publizieren, dann arbeiten sie nicht nur „wissenschaftlich“, sondern schaffen buchstäblich neues Wissen.
Bei der historischen Recherche kann man zumindest als Christ und politisch aktiver Bürger nicht stehen bleiben. Vielmehr stellt die historische Forschung den ersten Schritt einer „Theologie der Versöhnung“ dar. Erst wenn die Fakten nicht mehr verschwiegen werden, sondern auf dem Tisch sind, können die nachfolgenden Generationen, die durch Gewalterfahrungen getrennt sind ein gemeinsames Narrativ entwickeln und sich begegnen.
 

Lieber Herr Stängle, ganz herzlichen Dank, dass Sie Zeit für uns hatten.

 

Für den Arbeitskreis Israel / RK

März 2018

 

Literatur

Stängle, Gabriel et al. 2017. „Wir waren froh, als es vorbei war“: die Ausgrenzung und Verfolgung von Juden im Kreis Calw zwischen 1933-1945. Horb am Necker: Geiger Druck.

Autorenteam des Technischen Gymnasiums Nagold. 2011. Gerechte unter den Völkern. Die stillen Retter untergetauchter Juden im Nordschwarzwald und im Oberen Gäu. Redaktion: Mall, Volker/ Roth, Harald/ Stängle, Gabriel, Fabarius, Eckehart. Gäufelden: KZ Gedenkstätte Hailfingen Tailfingen e.V. in: http://www.kz-gedenkstaette-hailfingen-tailfingen.de/pdf/kzht.v.ve_gerecht_e.pdf

Stängle, Gabriel. 2011. "Dont't know much about history" Annäherungen an persönliche und kollektive Erinnerung durch Oral History, in: Faix, Tobias/ Wünch, Hans-Georg/ Meier, Elke (Hg.). 2011. Theologie im Kontext von Biographie und Weltbild. Marburg: Verlag der Francke-Buchhandlung, S. 281-312.